...Die Rillen lassen sich so auch als eine individuelle Handschrift lesen, die wie in der Graphologie Charaktereigenschaften wiedergibt. Im Surrealismus kannte man als poetisches Verfahren zur Befreiung des Unbewussten auch das automatische Schreiben, die Écriture automatique. Das sowohl im Spiritismus, wie in der Psychologie bekannte Verfahren hat in der Schallplattenrille quasi ein objektives, technisches Pendant.

Die Fotografien von Ralf Brög machen diese spezifischen Rillenformationen fotografisch sichtbar. Die Schallplatte selbst wird zu diesem Zweck mit Wachskreide farbig präpariert. Sie setzt sich in den Vertiefungen fest. Anschließend wird die Schallplatte in einem Flachbettscanner optisch abgeastet und digitalisiert. Das Ergebnis im maßstäblich vergrößerten Abzug zeigt das differenzierte Bild der schwarzen Flächen des PVC im Kontrast zu den farbigen Linien der Tonrille, die dem Klang folgt.

Eine Parallele hat dieses Vorgehen mit der Dendrochronologie. Diese wissenschaftliche Methode untersucht das Alter von Holz anhand der Jahresringe, die auf Grund klimatischer Bedingungen in jedem Jahr anders ausfallen. Bei dem von Andrew Ellicott Douglass etablierten Verfahren werden aus den zu untersuchenden Baumstämmen Scheiben herausgeschnitten. Auf den mehr oder weniger kreisförmigen, flachen Scheiben wird Kreide verrieben, die sich entlang der Jahresringe einlagert und diese somit für eine Untersuchung besser sichtbar macht.

Das Verfahren erinnert ebenfalls an die elektronische Abtastung der Fingerkuppen oder ganzer Handflächen innerhalb von Sicherheitssystemen, wie seit Jahren an internationalen Flughäfen der USA für Einreisende in Verwendung. Der deutsche Anatom Johann Christoph Andreas Mayer hatte bereits 1788 seine Erkenntnis publiziert, dass jeder Mensch einzigartige Fingerabdrücke besitzt.William James Herschel führte 1877 Fingerabdrücke zur Signatur von Verträgen in Indien ein und Joseph A. Faurot 1906 am New York Police Department zur Erfassung von Kriminellen. Der unmittelbare Handabdruck selbst erscheint bereits in der jungsteinzeitlichen Höhlenmalerei Nordspaniens und Südfrankreichs, sowohl in positiver Form, wie als negative Kontur: ein unmittelbares Zeugnis des eigenen Lebens und der Selbstbezüglichkeit.

Bereits 1904 konnten erstmals Bilder durch eine Photozelle abgetastet und elektronisch über das Telefonnetz übermittelt werden. Aus den parallelen aber technisch unterschiedlichen Entwicklungen von Arthur Korn und Édouard Belin entstand die analoge Bildtelegrafie, die heute noch als Fax bekannt ist. 1957 wurde das erste Bild digital gescannt, das 176 mal 176 Pixel maß. Ralf Brög benutzt den Scanner jetzt als künstlerisches Medium, wie andere die Fotografie.

Bemüht man die klassischen Bildgattungen, um die Ergebnisse von Ralf Brögs Scans, dann handelt es sich streng genommen um Stillleben, denn man sieht das Abbild eines Objekts. Aber nicht nur das für Stillleben bis ins 19. Jahrhundert übliche Bildformat wird deutlich überschritten – auch die Objekte sind allzu stark im Maßstab vergrößert. Vor allem beim Genrebild wagten die Künstler im Laufe des vorvergangenen Jahrhunderts den Sprung ins große Format, das vormals dem Historienbild oder Herrscherporträt vorbehalten war. Pionier war Gustave Courbet mit seinem in den Flammen Dresdens verlorenen Bild "Die Steinklopfer" von 1849. Die vergrößerte Darstellung von Gegenständigen bis in Monumentaldarstellungen hinein war jedoch ein Phänomen das im Werbeplakat der aufkommenden Massenproduktion im späten 19. Jahrhundert zu beobachten war. Erst die Pop-Art hat dieses Prinzip konsequent in die Kunst übertragen und ihre Ikone ist Andy Warhol's Suppendose der Marke Campbell's. Vergleichsweise isoliert und freigestellt sind die Schallplatten bei Ralf Brög.

Im Französischen heißt eine Schallplattenseite "Face". Dasselbe Wort bedeutet, wie im Englischen auch, Gesicht. Lässt man sich von diesen Bedeutungszusammenhängen leiten, mit Blick auf die individuelle Ausprägung die jede Schallplatte über ihre Rillenformation besitzt, dann könnte man überlegen, ob die gescannten und ausbelichteten Schallplatten nicht auch als Porträt bezeichnet werden könnten. Wie bei der Schallplatte geht es im Porträt um mehr als die Ähnlichkeit mit dem Abgebildeten. Der Abgebildete ist eine Persönlichkeit, die sich visuell in Mimik und Gestik ausdrückt, jenseits der Eindeutigkeit von Fingerabdruck und DNS-Profil. Das Gesicht in seiner Gestalt ist nicht nur Resultat eines Wechselspiels von Genen, Ernährung, Alter oder gesundheitlicher Disposition.

Wesenszüge prägen sich ein: der verkniffene Mund, die Zornesfalte, der schüchterne gesenkte oder blasiert herablassende Blick. Sie korrespondieren mit den Wesenszügen der Musik im Sinne der Analogie und nicht des Symbols. Die physische Erscheinung und Form wird zum Träger von etwas anderem. Hier der Seele, da der Musik. Wie bei dem Gesicht einer Person, die man kennt, dass Wissen um gemeinsame Erfahrungen Eigenheiten und Gefühle bei der bildlichen Betrachtung mitschwingt, so kann auch das Bild eines Mediums, wie der Schallplatte, assoziativ die Musik heraufbeschwören, die da gespeichert ist und mit ihr wiederum die Momente des Hörens, Gedanken und Empfindungen. Man hört, was man sieht, im Kopf.

Es sind verschiedene Schallplatten und somit Aufnahmen die Ralf Brög im beschriebenen Verfahren bearbeitet hat. Das besondere der Langspielplatte "Radioaktivität" aus dem Jahr 1975 liegt vor allem in der medialen Selbstreferenz, die in vielen Liedern und ihren Texten zum Thema gemacht wird. Mediale Selbstreferenz kann als ein ureigenes Motiv der künstlerischen Moderne angesehen werden. Darüber hinaus verweist auch das künstlerische Konzept der Gruppe Kraftwerk auf einen spezifischen Bereich der Moderne, den gattungsübergreifenden internationalen Konstruktivismus von Alexander Rodtschenko, über das Bauhaus bis Theo van Doesburg. Dazu gehörte auch die Ästhetisierung der Maschine und mit ihr die der technischen Produktion und Reproduktion. Sie bilden den Horizont für die Arbeiten Ralf Brögs im Einsatz der Mittel unserer Gegenwart.

Thomas W. Kuhn, Golzheim im Juli 2011

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